Selbst
Inhaltsverzeichnis
Wie kam das „Selbst" in die System-Aufstellung?
Da musste ich erstmal mich besinnen. Ja es war so: durch das Aufstellen kann man sehen, dass Klienten für Mutter oder Vater ein verstorbenes Geschwister vertreten, oder einen Elternteil oder den real oder emotional nicht präsenten Partner. Das ist für die Identität verwirrende, dadurch kann der Klient natürlich nicht bei sich selber sein. Irgendwann kam mir die Idee, einen Repräsentanten aufzustellen für das was der Klient eigentlich ist, für sein Selbst! Mein Gefühl: es gehört zu seiner „Grundausstattung", auch wenn er es noch gar nicht kennen gelernt hat. Vielleicht ist es ja noch „original verpackt"? Und dann war ich selber überrascht von der überwältigenden Wirkung, wenn ein Klient mit diesem noch unbekannten Selbst - eine Fiktion? - einmal „probeverschmilzt". Da war es klar: das ist eigentlich unsere unverlierbare Ressource. Und sie steht uns zu Verfügung - solange wir noch atmen. Und das „Aussteigen" aus all den übernommenen Rollen, die uns vielleicht die Illusion gegeben haben so unersetzlich zu sein - obwohl wir da gar nichts bewirken konnten - dies Aussteigen wird auf einmal ganz leicht, wenn man die „lohnende Alternative" kennen gelernt hat.
„Selbst-Anteile"
Als nächstes zeigte sich, dass es mehrere Selbst-Aspekte gibt, entsprechend den Selbstanteilen, die ein Klient als Kind unterdrücken, oder abspalten musste, weil sie nicht erwünscht waren, oder auch von den Eltern bedroht wurden:
- das „erwachsene Selbst", das sich abgrenzen kann, das weiss, was es will und das auch sagen kann, das sich wehren und schützen kann, und
- das „kindliche Selbst", das klein und schwach sein darf, bedürftig nach Nähe und Zuwendung, das geschützt werden möchte vor Verletzungen und Übergriffen, das aber auch Spass haben möchte. Und bisweilen auch
- das „Körperselbst". Wenn ein Klient erlebt, dass er für die Eltern das „falsche Geschlecht hat", oder wenn er sexuelle Übergriffe erlebt hat, dann lehnt er manchmal den Körper, besonders seine männlichen oder - häufiger - weiblichen Formen ab, so als seien sie die Ursache für das Leid, das er erle! bt hat.< /font>
Für diese Selbstanteile lasse ich den Klienten Stellvertreter aussuchen, die er dann im Raum aufstellt. So wird sichtbar, wie nahe - oder ferne - sie ihm sind.
Arbeit mit dem „inneren Kind"
In der Aufstellung wird dann deutlich, wie sehr der Klient sein „kindliches Selbst" oder sein „inneres Kind" unterdrückt hat. Die Annäherung und Integration des „inneren Kindes" erfolgt ritualisiert in mehreren Schritten, je nach den biografischen Gegebenheiten.
Wenn der Klient gar nicht erwünscht war, dann braucht sein „inneres Kind" eine „standesgemässe Begrüssung", wenn schon nicht von den Eltern, dann von ihm selber zum Beispiel:
„Wie schön dass du da bist, dass du so bist wie du bist, und dass du ein Mädchen (Bub) bist und so ein herziges (so ein aufgewecktes Kerlchen!)
Wenn es Verletzungen gab, dann ist es wichtig, nicht in das frühe Leid „hineinzukippen", sondern die Kraft des inneren Kindes zu würdigen:
„Danke dass du das damals alles ausgehalten hast - dass du nicht gestorben oder verrückt geworden bist - du bist sehr stark!"
Damals war der Klient noch Kind, konnte sich nicht schützen, deshalb ist wichtig:
„Jetzt bin ich erwachsen, und ich lasse nie mehr zu, dass du verletzt wirst, dass du benutzt wirst, dass du manipuliert oder gehirngewaschen wirst, dass du überfordert wirst - auch nicht von mir!"
Meist geht die Sorge des Klienten zu Partner und Kinder, da wird das innere Kind - schon wieder - übersehe! n. Viell eicht erwartet man unausgesprochen, dass der Partner sich um das eigene innere Kind kümmert - das geht immer schief, und dann findet man den Partner so egoistisch! Aber ist es wirklich fair, den Partner als „Babysitter" zu missbrauchen? Deshalb:
„Ab heute kümmere ich mich persönlich um dich, ab heute bist DU die Nummer eins!".
Und - besonder wenn das Leben so schwer und freudlos geworden ist:
„Bei mir darfst du auch deine Gaudi haben, und was anstellen. Und ich stehe persönlich für dich Schmiere!"
(Ero Langlotz, Newsletter Mai 2014)„Illusion eines Selbst" - ein Missverständnis?
Westliche - und östliche - spirituelle Lehrer beschreiben den Weg zur Erleuchtung, zur Erfahrung des „Ungetrenntseins" mit dem Ganzen als Überwindung des Selbst. So als sei das Selbst nur eine Illusion. Das erscheint mir vom Standpunkt der „systemischen Selbst-Integration" aus höchst problematisch. (Siehe auch „Das Selbst und der Ochse" auf meiner Homepage, Texte, Anmerkungen ...)
Klienten mit Symbiosemuster - speziell diejenigen unter ihnen, die einen Zwilling verloren haben, suchen oft Heilung ihres symbiotischen Leids und erstreben Klärung ihrer Verwirrung durch Spirituelle Übungen. Vielleicht (miss)verstehen sie das Fehlen eines „Selbst" und des damit verbundenen (gesunden) Egoismus bereits als Überwindung des Selbst? Vielleicht halten sie ihre fehlende - unterdrückte - Aggression bereits für bedingungslose Liebe und ihr unabgegrenztes Mitleiden bereits für Mitgefühl? Machen sie aus ihrer Not eine Tugend? Verwechseln sie ihre eigene symbiotische Unabgegrenztheit mit dem spirituellen Phänomen des Ungetrenntseins, mit einer Vorform von „Erleuchtung"?
Ich beobachte immer wieder bei meinen Klienten: Spirituelle Übungen der „Überwindung des Selbst", welche die Grenzen auflösen, das Unterdrücken „negativer Gefühle" wie Wut und Hass verstärken, können für die Betreffenden gefährlich werden. Besonders traumatisierte - und dadurch symbiotische - Klienten können dadurch sogar in eine suizidale oder psychotische Krise geraten. Birgt also der spirituelle Weg das Risiko einer Entgleisung in eine psychiatrische Erkrankung, oder handelt es sich hier um ein Missverständnis?
Daher befragte ich zu diesem Thema Frau Ulli Olvedi, eine praktizierende Buddhistin. Sie antwortete mir:
Das Problem mit der Übersetzung buddhistischer Aussagen aus! dem San skrit oder Tibetisch ist riesig - die verwendeten Begriffe westlicher Sprachen transportieren nicht die tatsächlichen Inhalte. Mein tibetischer Meister, der verstorbene Tarab Tulku, empfahl, den Prozess, den Sie ansprechen, mit der Formulierung "vom falschen Selbst zum authentischen Selbst" deutlich zu machen. So habe ich es auch in meinem Buch "Die Energien des Lebens und des Sterbens", das sich auf Tarab Tulkus Darlegungen stützt, ausgedrückt. (Uli Olvedi, 2013, O.W.Barth) Leider existiert Tarab Tulkus Werk bis dato nur in tibetischer Sprache. Das von ihm in englischer Sprache gelehrte Material wird nur im Rahmen der "Unity in Duality"-Seminare und -Ausbildung von einigen seiner Schüler weitergegeben.
Die hier beschriebene Unterscheidung von „falschem" und „authentischen" Selbst entspricht exakt dem Verständnis der systemischen Selbst-Integration. Diese Form des tibetischen Buddhismus unterstützt - wie die systemische Selbstintegration - die Autonomie-Entwicklung und ist daher für die seelische Gesundheit ungefährlich. Fazit für mich: Spirituelle Wege, die diese begriffliche Unterscheidung zwischen „falschem" und „authentischem" Selbst vernachlässigen, und weiterhin pauschal das Selbst als „Illusion" bezeichnen, die überwunden werden muss, können für Klienten mit Symbiosethema gefährlich werden.
(Ero Langlotz, Newsletter Juni 2014 III)Integration des erwachsenen und des kindlichen Selbst
Im Prozess der „systemischen Selbst-Integration" spielt die Annäherung und Verbindung mit den bisweilen abgelehnten Selbstanteilen eine zentrale Rolle. Die Annäherung an das „Erwachsene Selbst", das frei und stark und unabhängig ist, gelingt meist leicht. Wenn ein Klient hier zögert, dann verwechselt er vielleicht das Erwachsene Selbst" mit dem überforderten kindlichen „pseudoerwachsenen" Selbst, das sich vergeblich bemühte, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen. Das ist verständlicherweise wenig anziehend. Ein Hinweis auf diese mögliche Verwechslung macht in der Regel den Weg zum erwachsenen Selbst frei.
Schwieriger ist oft die Annäherung an das kindliche Selbst. Hier gibt es zwei Stolpersteine. Einmal droht die Gefahr, dass der Klient von existenziellen Verlassenheits-Ängsten und Schuldgefühlen überflutet wird, wenn er sich diesem Selbstanteil nähert. Daher ist zuvor die Annäherung und Identifizierung mit dem erwachsenen Selbst erforderlich. Als Erwachsener kann er sich anders dem verletzten kindlichen Selbst nähern und zunächst dessen Stärke würdigen. Denn es hat offensichtlich alle Traumatisierungen überlebt, ohne zu sterben, ohne ganz verrückt zu werden!
Als Zweites hat ein traumatisierter Klient bisweilen selber sein kindliches Selbst abgelehnt. Identifiziert mit den Eltern, hat er dessen abwertende Sicht übernommen. Meist ist das dem Klienten sofort einsichtig. Hier hilft ein einfaches „Ritual", das der Therapeut vorschlägt: „vielleicht siehst du ja dich selber immer noch durch die Brille von Mutter oder Vater? Dann leg doch einfach diese Brille ab und schau mit deinen eigenen Augen auf das Kind das du damals warst. Gibt es da irgendetwas auszusetzen?" Es ist erstaunlich, wie sich sofort der etwas gequälte Gesichtsausdruck entspannt und der Klient mit Liebe und Mitgefühl auf sein „inneres Kind" zugehen kann. (Ero Langlotz: Newsletter Juli 2013 II)