Gegenabgrenzung
Seit etwa 2 Jahren gehört auch die Gegenabgrenzung zum Lösungsprozess. Nachdem der Klient seinen eigenen Raum gegenüber dem Anderen durch Abgrenzung in Besitz genommen hat, geht er probeweise in den Raum des Gegenübers und erlebt, wie nun dieser sich abgrenzt. Das hat einen sehr realen Hintergrund: Menschen, die ihren eigenen Raum, ihre Grenze gar nicht wahrnehmen, können gar nicht anders, als sich in fremde Räume zu begeben, natürlich in „bester Absicht", um sich da nützlich - oder auch unentbehrlich zu machen. Wenn der andere dann sich „gesund" abgrenzt, fühlen sie sich abgelehnt, missachtet, abgewiesen, dabei haben sie es doch „nur gut gemeint." (Erstaunlich, wie diese „Gutmeinenden" sich und ungebeten überall einmischen, als hätten sie ein Recht dazu!) Das Ritual gibt ihnen die Chance, diese Verwirrung ihres Gefühles zu erkennen - und zu korrigieren durch folgende Einsichten:
- Wenn sie Tiger in ihrem Raum sein dürfen, dann natürlich auch der andere, zwischen Tigern ist das ganz normal und nicht böse, da muss keiner Beleidigt sein.
- Im fremden Raum, in dem sie ja gar nicht zuständig sind, ernten sie nur Misserfolg und Undank. Wenn der andere ihnen klar seine Grenze zeigt - und sie das respektieren - dann können sie ihre Energie besser da einsetzen, wo sie zuständig sind. Eigentlich müssten sie dann dem anderen dankbar sein - statt sich gekränkt und verbittert zurück zu ziehen.
- Zwischen Erwachsenen ist diese gegenseitige Abgrenzung „normal", ja sie ist die Voraussetzung für Kontakt, für Beziehung. Wer jedoch durch die „gesunde" Abgrenzung des Gegenübers verletzt ist, geht dem Kontakt mit gesunden Erwachsenen aus dem Wege. Er findet Menschen, die sich nicht abgrenzen können, die ihm nicht weh tun. Aber das sind meist sehr traumatisierte Menschen, mit denen nur eine symbiotische Beziehung möglich ist. So kommt er „aus dem Regen- seiner Herkunft - in die Traufe - seiner Gegenwart." Immer wieder verletzt durch Kontakterfahrungen wird ihr Symbiosemuster immer stärker, die Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem es völlige Übereinstimmung „Harmonie" gibt, mit dem sie verschmelzen können. Ein Teufelskreis. (Ero Langlotz: Newsletter JANUAR 2014 II)
Im Prozess der systemischen Selbstintegration zeigt sich immer wieder: Menschen, die nicht gelernt haben, ihren eigenen Raum, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu schützen, können gar nicht anders, als sich - ungebeten - in fremde Räume zu begeben. Und je nach Temperament bewegen sie sich da angepasst, als „blinder Passagier", oder sie greifen ordentlich zu, versuchen sich dort nützlich oder vielleicht als „Lotse" unentbehrlich zu machen, in bester Absicht - um sich dadurch ein „Bleiberecht" zu verdienen?
Im Ritual der Gegenabgrenzung darf der Beziehungspartner seinen Raum gegenüber dem Klienten schützen. Dabei wird deutlich: Wenn der andere - wider Erwarten - sich wehrt, dann fühlt sich der Klient verletzt, er hat es doch so gut gemeint!
Das gibt dem Leiter die kostbare Chance, dem Klienten seine symbiotische Gefühlsverwirrung zu erklären. Er hat ja gerade erlebt, dass er seinen eigenen Raum hat, den er gegenüber anderen schützen darf - auch wenn sein Gefühl ihm sagt: das ist verboten, verletzend, nicht so nett. Und er hat die Erfahrung von Befreiung gemacht, als er sich - trotz dieses Verbotes - abgrenzte. Nun bei der Gegenabgrenzung gibt es schon wieder einen Unterschied zwischen seinem Verstand und seinem Gefühl: Wenn er seinen Raum schützen darf - symbolisch unterstützt von einem „Krafttier" zum Beispiel einem Tiger - dann darf natürlich auch sein Gegenüber seine Grenze ihm gegenüber schützen. Zwischen Tigern ist das ganz normal, da muss keiner verletzt oder beleidigt sein! „Oder hast du schon einmal einen beleidigten Tiger gesehen?"
Aber warum fühlt er sich verkannt, zu Unrecht abgelehnt, warum ist enttäuscht, gekränkt, verbittert? Zur Verwirrung der Symbiose gehört offensichtlich auch dieses Missverständnis, man habe nur dann ein Existenzrecht, wenn man sich für andere nützlich mache. Gegenabgrenzung wird dann als verletzend und bedrohlic! h erlebt , so als würde dadurch das Existenzrecht genommen. Manche, die ihren eigenen Raum - und sich selbst - gar nicht kennen, „machen aus der Not eine Tugend", fühlen sich so edel und selbstlos, dass sie glauben, dadurch ein Recht zu haben, sich ungefragt bei anderen einzumischen. Dadurch wirken sie auf den anderen anmassend, übergriffig und überheblich, und - wenn er kann - wehrt der sich dagegen.
Aber erst durch diese gegenseitige Abgrenzung entsteht der Kontakt zwischen Ebenbürtigen, zwischen „autonomen" Erwachsenen.
Menschen, die sich - in ihrer symbiotischen Verwirrung - durch Gegenabgrenzung verletzt fühlen, die in ihrem (symbiotischen) Bedürfnis nach Harmonie jede Auseinandersetzung als verletzend erleben - und deshalb meiden - haben daher grosse Schwierigkeiten, einen „autonomen" Kontakt zu Ebenbürtigen zu bekommen. Sie ziehen sich aus diesen Kontakten zurück. Sie suchen sich lieber Partner, die sich nicht abgrenzen können - meist weil sie selber traumatisiert sind - mit denen sie eine symbiotische Pseudoharmonie herstellen können. Dabei gibt es viele Varianten zwischen den beiden Extremen: als Retter und Kapitän (dominant) auf dem brüchigen Schiff des anderen(bedürftig) oder als blinder Passagier (bedürftig) auf dem - vermeintlich - sicheren Schiff des (dominanten) Partners.
Zwischen diesen Erklärungen des Therapeuten wiederholt der Klient die Erfahrung, dass sein Gegenüber sich abgrenzt. Und von Mal zu Mal verändert sich sein Gefühl dabei. Und am Schluss kann er vielleicht sehen und spüren, dass diese Abgrenzung des Gegenübers ihn davor bewahrt, sich in fremdem Terrain zu engagieren - wo er nur verlieren kann. Dass es ihm den hilfreichen Kick gibt, sich seinem eigenen Terrain zuzuwenden, wo er handlungs! fäh ig ist und Erfolg haben kann. (Ero Langlotz: Newsletter NOVEMBER I 2013)