Abgrenzung
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Ist Abgrenzung nicht beziehungsfeindlich?
An diesem Punkt gibt es viel Verwirrung, daher möchte ich das so präzise wie möglich erklären. Es gibt, sehr schematisch, zwei Formen von Beziehung: die symbiotische und die erwachsene, „autonome" Beziehung.
Manche kennen vielleicht nur die symbiotische, verschmelzende Form der Beziehung. Da unterdrückt man sein Eigenstes - weil es vielleicht unerwünscht ist. Man passt sich dem anderen an, damit es sich harmonisch und kuschelig anfühlt. Und man versucht, dem anderen seine Wünsche „von den Augen abzulesen" und hält das für Liebe. Bindung entsteht hier durch Abhängigkeit. Unzufriedenheit und Ärger wird solange unterdrückt, bis es „explodiert". Das kann zu abrupten Beziehungs-Abbrüchen führen, zu „Überabgrenzung" - um wieder ganz und authentisch sein zu können. Überabgrenzung wird oft und zu Unrecht mit Autonomie verwechselt. Überanpassung und Überabgrenzung sind die zwei Seiten derselben „Symbiose-Medaille". Anders formuliert: ohne Grenze gibt es das Dilemma: In der Nähe zum Anderen verliert man sich selbst. Wenn man mit sich selbst verbunden sein möchte, verliert man die Nähe zum anderen.
Eine erwachsene, autonome Beziehung wird möglich durch Grenze, durch eigenen Raum. Das löst das Dilemma der Symbiose: Auch in der Nähe zum anderen kann man sich selber spüren, kann dem Gegenüber nach und nach auch das Eigenste zeigen - das vielleicht nicht jeder mag. Dadurch wird man echt, authentisch und - anziehend! Nur so hat man die Chance, dass der andere einen so sieht, wie man wirklich ist, und kann die Erfahrung machen, dass der andere einen so mag, wie man ist.
In einer derartigen Beziehung ist Begegnung zwischen ICH und DU möglich, so wächst Kontakt. Bind! ung ents teht hier durch gegenseitige Anziehung - statt durch Abhängigkeit.
Fazit: Erst durch die Grenze entsteht Kontakt!
Und ein zweiter Aspekt: Bei der Durchführung des Abgrenzungs-Rituals - besonders gegenüber einer geliebten Person - kann man sein unbewusstes Aggressionsverbot deutlich als Hemmung wahrnehmen. Die unterdrückte Aggression staut sich und richtet sich dann gegen sich selbst, das führt zu Depression, zu Krankheit. Wenn der Klient die Verwirrung seines „Verbots-Gefühl" wahrnimmt, dann kann er sich entscheiden, dies Verbot bewusst zu „übertreten". Das ist ein entscheidender Punkt: der Betreffende richtet sich auf, bekommt eine straffere Haltung, sein Gesicht strahlt, die Augen blitzen. Jetzt kann er seine Kraft für sich einsetzen - statt gegen sich! (Ero Langlotz: Newsletter FEBRUAR 2014 I)Abgrenzung
Ihr alle kennt ja das Abgrenzungsritual, mit dem jeder seinen eigenen Raum frei halten kann von den Themen des Gegenübers, gekrönt durch die Imagination eines Raubtiers, dass sein Revier verteidigt, durch seine Kraft, verbunden mit einem schrecklichen Schrei. Das ist gesund, nicht verletzend. Viele spüren da einen Widerstand, ein "Verbot". So entdecken sie ihre Aggressionshemmung. Sie ist dafür verantwortlich, dass sie bisher ihre Kraft nicht in die „gesunden" Kanäle geben konnten, sodass diese Kraft sich staut. Notgedrungen sucht sie sich andere „Kanäle", gegen das Selbst, als Depression und Schuldgefühle, als autoaggressive und allergische Reaktionen, oder gegen andere als verletzendes Verhalten.
Diese „Richtungsumkehr" der Kraft, nach aussen, statt wie bisher nach innen, verändert die Haltung und die Ausstrahlung der Betroffenen: sie richten sich auf, die Augen blitzen, sie strahlen. (Ero Langlotz: Newsletter JANUAR 2014 II)Fallbeispiel: Freude und Halt durch Abgrenzung
Eine Klientin - nennen wir sie Helga - war nach einer Aufstellung ganz unglücklich. Sie repräsentierte für eine Klientin eine Schwester, von der sie sich abgrenzen sollte. Dabei schob diese sie in ihrem Eifer über den zweiten Schal - Markierung der „gesunden Distanz" - hinüber. Helga protestierte dagegen - in dem Missverständnis, dadurch sei bereits ihre eigene Grenze überschritten. Ich verstand nicht ihr Missverständnis und überging ihren Protest. In de! r Nacht kamen ihr Erinnerungen an Situationen, in denen ihr verboten worden war, ihre eigene Grenze zu schützen. Empört und verletzt beschwerte sie sich am nächsten morgen bei mir. Ich verstand ihre Empörung - und tröstete sie damit, dass sie dadurch an wichtige Erinnerungen von früheren Traumata gekommen wäre. Und ich erklärte ihr, dass man beim Schutz seiner Grenze auch über die eigenen Grenz-Linien gehen könne, der eigene Raum sei ja kein Gefängnis, das man nicht verlassen dürfe. Das berührte sie sehr, offensichtlich hatte sie ihren eigenen Raum so missverstanden. Ich bot ihr an, in einem erneuten Abgrenzungsritual ihre Grenze zu schützen. Helga suchte sich ein Gegenüber und nun grenzte sie sich mit einem kraftvollen „stopp!" ab. Erst zögerlich, unsicher, dann immer klarer und entschiedener.
Ihr Gegenüber war - entgegen ihrer Erwartung - nicht verletzt oder gekränkt, in Gegenteil: sie war erleichtert, als Helga sich klar und eindeutig abgrenzen konnte, sie fühlte durch diese Grenze so etwas wie Halt. Und es machte ihr Freude! Beide tauschten die Rollen und wiederholten das Ritual. Wieder spürten beide, als die Abgrenzung klar und eindeutig war, fühlten sich beide gut.
Meine Idee: vielleicht ist das ein neues, verkürztes Format: einfach die eigene Grenze bewusst schützen - gegenüber wem auch immer! (Ero Langlotz, Newsletter Oktober 2013 III)Abgrenzung und Augenkontakt
Die Fähigkeit, sich im Kontakt zum Gegenüber von diesem innerlich abzugrenzen, das heisst, gleichzeitig sich selber und den anderen zu spüren ist unterschiedlich ausgeprägt. Sie gehört zu unserer "Grundausstattung" dazu, ist für die Autonomie-Entwicklung zentral bedeutsam. Diese Fähigkeit - wie auch die Autonomie-Entwicklung - kann blockiert werden durch frühe traumatische Erfahrungen: Verlust einer Bezugsperson, Erfahrung von Gewalt.
Im Autonomie-Fragebogen wird diese Fähigkeit unter A abgefragt. Daraus kann ein Punktwert errechnet werden. Eine andere Möglichkeit, die Abgrenzung quantitativ zu messen, besteht in folgendem Experiment: Der Probant steht in möglichst großem Abstand einer anderen Person gegenüber. Er schliesst zunächst die Augen, versucht, sich selber zu spüren, d.h. die Fußsohlen zu spüren, die Atmung zu spüren. Dann öffnet er die Augen und geht langsam, Schritt für Schritt, auf sein Gegenüber zu, bis er sich selber nicht mehr spüren kann.
Dieser Abstand, bei dem er mehr das Gegenüber, als sich selber wahrnimmt, korreliert mit seiner Abgrenzungsfähigkeit. Je geringer der Abstand, umso größer seine (innere) Abgrenzungsfähigkeit. In der letzten Ausbildungsgruppe habe ich das getestet und die erhobenen Werte mit der Punktzahl im Abgrenzungsfragebogen in einem Koordinatensystem in Bezug gesetzt. Es entstand leider nicht eine Linie, sondern ein breiter Punkteschwarm, der nur andeutungsweise die zu vermutende Linie umhüllte.
(Als Arzt bin ich naturwissenschaftlich ausgerichtet und habe Freude am Beobachten, Experimentieren und Messen.) Dies Experiment kann jeder Therapeut mit seinem Klienten - oder selber mit einem Partner - ausführen. Die Erfahrung ist sehr eindrücklich. Ich erinnere eine - massiv traumatisierte - Klientin, die bei bereits 9m Abstand zu mir sich selber nicht mehr spürte! Sie war erwerbsunfähig. Bei einem Versuch, als Verkäuferin in einer Bäckerei etwas zu zu verdienen, "erfasste" sie sofort die ganze Problematik des Betriebes, so als wäre es ihre Aufgabe, das zu lösen, und sagte erleichtert wieder ab! Nähe und Augenkontakt Es wäre zu untersuchen, ob dies Phänomen auch mit geschlossenen Augen auftritt.
Mir selbst gelingt es mit geschlossenen Augen viel besser, bei mir zu bleiben - das haben schon einige beim Aufstellen bemerkt. Merkwürdigerweise kann ich mich auch im Dunklen besser in einem - mir bekannten - Raum orientieren, wenn ich die Augen schliesse! (Ero Langlotz: Newsletter Dezember 2012I)